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Natur und Mensch im Spiegel

10 min
Ingrid S. Hofer
Die Natur stellt sich keine Fragen über die Schönheit. Sie ist ungebändigt wie gebändigt einfach Natur. Sie ist gut wie sie ist. Solange wir ihre und damit unsere Gesundheit erhalten. Das sollte unsere Ideale bestimmen. Unsere Schönheits-Ideale hingegen lassen uns in ihrem engen Korsett nach Luft ringen. Alicja Brodowicz zeigt mit ihren 'Visual Exercises' wie eng Natur und Mensch verbunden sind, und damit die Vielfalt ihrer wahren Schönheit. Eine Geschichte über die Perfektion des Unperfekten.

Alicja Brodowicz hat mit ihrem kritischen Blick einen Nerv unserer Zeit getroffen. In ihrem Werk ‘Visual Exercises’ stellt sie in zweiteiligen Foto-Kompositionen Natur und Mensch gegenüber – auch genannt Diptychon. Inspiriert von der auf die Spätantike zurückgehende Darstellungsform zweiteiliger, klappbarer Relieftafeln oder Gemälden. Sie schafft damit eine Gegenüberstellung, aber auch eine Einheit – die eine untrennbare Verbundenheit zwischen Natur und Mensch visualisiert.

Gefesselt von der melancholischen Schönheit ihres Blickes darauf, aber auch von der Erkenntnis, wie unterschiedlich die einzelnen Bildarrangements im ersten Moment auf mich wirken, muss ich mich fragen: ‘Was hat dazu geführt uns derart auf glatte Perfektion zu versteifen, sodass wir jede menschliche Eigenheit, jede Unebenheit zu schnell als nicht schön definieren, und alles nicht unserem Ideal entsprechende überbewerten, gar restlos ausmerzen wollen?”

Alicja Brodowicz 'Visual Exercises. A Series of Diptychs'
In nature, nothing is perfect and everything
is perfect. Trees can be contorted, bent in
weird ways, and they’re still beautiful

Alicja Brodowicz wählte dieses Zitat von Alice Walker als Beisatz für ihr Werk. Ein Zitat, dass zeigt wie bedingungslos die Natur mit der Schönheit verbunden ist. Die Natur bietet so viel Spielraum an Ästhetik. Alles ist Perfektion, nichts ist Perfektion. Und doch, geht es nie um oberflächliche Vollkommenheit. Es geht um Echtheit. Verbundenheit. Gleichgewicht. Leben. Vielfalt. Schönheit in Form von Fülle an Sein.

Wir sind Teil dieser Natur. So wie wir aus ihr entspringen, werden wir eines Tages wieder in ihr verschwinden. Jede/r Einzelne von uns wird verblühen. Dennoch erkennen wir die wahre Schönheit dahinter nicht. Es wird nur bleiben was wir hinterlassen. Nur wenn wir, wie die Natur selbst, unseren Fokus mehr auf die nachhaltige Schönheit unseres Schaffens legen, hinterlassen wir Spuren der Unsterblichkeit.

Der Tiefgang, der durch die Reduziertheit der schwarzweißen Fotoserie unterstrichen wird, zeugt von dieser Vergänglichkeit. Es ist gut so. Vergänglichkeit ist sinnvoll. Sie ist Lauf des Lebens. Sie ist die Ordnung der Natur, so wie sie unsere ist.

Wenn wir das Leben voll ausschöpfen wollen, müssen wir uns darauf fokussieren wie wir gesund und glücklich in einer lebenswerten Gesellschaft alt werden können – nicht darauf perfekte, unsterbliche Körper zu erschaffen.

Es wird auch klar – wir sollten diese Natur schützen, um jeden Preis. Sie ist unser aller Mutter, und wenn wir ihre Schönheit vergehen lassen, wird auch unsere Schönheit endgültig mit ihr vergehen. Sie wird uns kein Zuhause mehr schenken können.

Mit der Übereinstimmung in Formen, Linien, Mustern, Geometrien,… zwischen den Bilder der Natur sowie des Menschen verstärkt Alicja Brodowicz genau diese einzigartige Einheit.

Visual Exercises are exercising me

Ihre Bilder haben die Kraft neue Blickwinkel für uns zu eröffnen. Wenn wir uns länger auf jedes einzelne dieser Fotos einlassen, können wir an unserer Gefühlsreaktion ablesen wo wir stehen, worauf wir geprägt wurden und wer wir sind. Aber auch ein Stück weit, wer wir wirklich sein wollen und vielleicht genau deshalb sind.

Mein Blick auf die Gegenüberstellung des Blattes mit den nassen gescheitelten Haaren hat für mich vom ersten Moment an etwas Vollkommenes, es trägt Anmut in sich. Ich kann es kaum erklären. Es fühlt sich richtig an. Genauso strahlt das mit den Dornen gepaarte Bild des Rückens Sinnlichkeit für mich aus. Die Stärke der sich überschneidenden Blätter sowie der verschrenkten Finger geben mir Sicherheit.

Herausfordernder wird es beim Anblick der Fußgegenüberstellungen. Das Bild der Zehen, die wie die Auswüchse der Kartoffelknolle willkürlich verdreht in sich sind, haben im ersten Moment etwas stark Abstoßendes an sich. In mir widerstrebt sich alles. Ich möchte beschämt wegsehen. Ich höre meine innere Stimme ‘Fehler’ sagen, und mein von den anderen Bildern inspiriertes Gefühl senkt sich. Es macht mich traurig. Nachdenklich. Abgesehen davon, dass ich weiß wie wichtig eine gute Entwicklung unserer Zehen für unsere Haltung und somit Gesundheit ist, schäme ich mich, dass ich es sofort als so abstoßend empfinde. Also lasse ich mich länger darauf ein, vertiefe meinen Blick bewusst, um die Zehen und die Knolle genau anzusehen. Nach einiger Zeit löst sich das Gefühl allmählich auf. Leichtigkeit kehrt zurück. Körperteile in dieser Form sind genauso natürlich, wenn auch von uns als abnormal bezeichnet.

Ich denke, dass ist auch eine gewünschte Provokation der Künstlerin. Die Auseinandersetzung mit den Bildern soll uns nicht nur eine tolerantere Haltung in unserem ästhetischen Empfinden geben. Es soll uns auch den Schrecken und die Abneigung vor Anomalien nehmen. Wir sollen uns darauf einlassen, Gefühle des Ekels und der Berührungsängste zu überwinden, und aufhören Fehler einer Schönheitswertung zu unterwerfen.

Wir sehen so sehr die unperfekten
Einzelheiten, anstatt unseren Blick auf
die Vollkommenheit des Ganzen zu legen.

Wenn wir es schaffen unsere Wahrnehmung mehr auf das Ganze, die größere Einheit von allem zu lenken, werden wir endlich unsere naturgegebene Schönheit erkennen. So wie ein Baum nicht hässlich durch einen verworren gewachsenen Ast und eine Blume nicht durch asymetrische Blüten ist, sind wir Menschen schön mit all’ unseren unperfekten Details, schön in unserer Vielfalt.

Wir alle sind Erscheinungen der Natur. Wir sollten unsere ganze Leuchtkraft entfachen, die alles überstrahlt und sind dafür zum Finden einer neuen Form unseres Selbstwertes aufgerufen. Ein neues optimistisches Selbst- und Weltbild, das sich nicht über optische Trends des jeweiligen Zeitgeistes definiert.

Mehr zur Arbeit der Künstlerin auf ihrer Website www.alicjabrodowicz.com auf Facebook oder Instagram

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Fotocredits: © Fotos by Alicja Brodowicz 'Visual Exercises. A Series of Diptychs'