Warning: Undefined array key "rating" in /home/.sites/4/site7646034/web/wp-content/themes/sisu-theme/single-blogbeitrag.php on line 36

Gesellschaft ohne Haken

12 min
Ingrid S. Hofer
Nordisch anmutend klingt sanft beschwingte Musik aus dem Hintergrund. Ich sitze an einem zauberhaften Ort in München, dem Café Blá, nahe der Isar. Es ist ruhig und lebendig zugleich. Ein Ort zum Sammeln und in sich gehen, ohne dabei alleine zu sein. Erfüllt von richtig guter Energie und lecker Kaffee. Dem perfekten Ort also, um meinem Gespräch mit 'Brot am Haken'-Initiator Michael Spitzenberger nachzuhängen. Eine Organisation mit ebenso wundervoller Energie, von der ich heute erzählen möchte.
Bäckerei Alof, München © Brot am Haken e.V.

Brot am Haken...

…hört man es zum ersten Mal, wirft es viele Fragen auf. Brot wo? Brot wie? Was? Und wieso Haken?

Also alles der Reihe nach. ‘Brot am Haken’ ist die abgewandelte Version der neapolitanischen Kultur des Caffè sospeso – dem aufgeschobenen Kaffee. Es ist ein Akt der Mitmenschlichkeit, der dort bereits seit etwa hundert Jahren ganz selbstverständlich gelebt wird. Denn der aufgeschobene Kaffee ist nichts anderes als ein weiterer Kaffee oder eine andere Konsumation, die man extra bezahlt aber nicht selbst konsumiert. Der Kassenbon wird aufgehoben, für eine andere Person, die sich über dieses Geschenk freuen könnte.

Den Gedanken dazu holte zuerst der Bäcker Sören Özer nach Nordeutschland. Thilo Schinkel, heute Geschäftsführer einer Designagentur, erarbeitete 2013 als Student das Konzept zu ‘Brot am Haken’ in seiner Diplomarbeit. Im Jahr 2015 stieß wiederum Michael Spitzenberger, damals noch Immobilienmakler, auf diese Idee. Er vereinte alle, holte das Projekt nach München, und gründete den Verein Brot am Haken e. V.. Nach kleineren Überarbeitungen der Hakenbretter, wurde mit vollem Tatendrang gestartet.

Inseln der Menschlichkeit

Seitdem sind schon wieder einige Jahre verstrichen. Durch die Organisation ist vieles geschehen – immer mit Bedacht auf kleine, gesunde Schritte. Etwa 60 Bretter sind heute im Einsatz, die meisten davon in München. Doch auch wenn Michael Spitzenberger auf eine bewusst langsame Verbreitung der Idee baut, wäre er kein Visionär, wenn er nicht noch viel mehr vorhätte. Er ließ mich in unserem Gespräch sehr viel Einblick in seine Gedanken, Ziele aber auch in die Hürden nehmen, die es als Verein zu bewältigen gibt. So wie den Wunsch unabhängig zu bleiben, sich über Crowdfunding und Spenden zu finanzieren, bis der Verein sich als Marke etabliert und selbst finanzieren kann.

Michael und seinem Verein geht es sehr stark um die Wirkung, die ‘Brot am Haken’ auf die Gesellschaft hat und welche Dynamik daraus entsteht. Er nennt es ‘Inseln der Menschlickeit’ zu erschaffen. Darauf liegt der Fokus seines Teams bei der Weiterentwicklung ihrer Arbeit.

Eine ältere Dame erzählte ihm einmal davon, wie es ist beim Essen auf die Tafel angewiesen zu sein, und wie unglaublich schön es sich im Vergleich dazu anfühlt, wenn sie sich Brötchen oder einen Kaffee beim Bäcker gönnen darf.

Wir unterschätzen gerne welch’ großen Unterschied es für die Würde und den Selbstwert Betroffener macht, ob sie im Schatten der Gesellschaft in, vielleicht sogar versteckter, Bedürftigkeit leben müssen, oder ob sie sich trotzdem und vielleicht gerade deshalb aufgehoben in der Gesellschaft, wahrnehmen dürfen. Sich angenommen zu fühlen, genauso wie man ist, erleichtert in die eigene Kraft zu finden, und selbst Verantwortung zu übernehmen.

Eine Kultur, die Geben und Nehmen als selbstverständlichen Bestandteil unseres Alltages fördert, fragt nicht danach wer sich den nächsten Bon vom Haken holen wird, oder ob es gerechtfertigt ist sich am Brett zu bedienen. Diese Kultur lässt die Gesellschaft zusammenrücken, da Freude schenken und Gutes tun als Wohl aller erlebt wird.

Hier entsteht auch Raum für Eigendynamik unter den Menschen. Eine andere ältere Dame bedankte sich beispielsweise mit einer auf dem Hakenbrett deponierten Konsumation bei ihren Sanitätern, erzählte mir Michael Spitzenberger im Gespräch – mit Entwicklungen dieser Art hatte der Verein gar nicht gerechnet. Social Design gestaltet Gesellschaft, aber die Gesellschaft gestaltet auch das Social Design weiter. Als schönsten Weg, den es nehmen kann.

 

Und überhaupt

‘Wer entscheidet denn schon über Bedürftigkeit? In uns schlummert ein Urwunsch andere zu unterstützen,’ ist sich Michael Spitzenberger sicher. Er meint wir haben nur verlernt, wie es ist zu geben ohne etwas dafür zu erwarten. Eine gewisse Opfer- und Retterrolle, die sich in unserer Gesellschaft entwickelt hat. Das hat eine Wertung impliziert – eine Teilung in stark und schwach.

Doch sind wir nicht alle manchmal oder in manchen Apekten unseres Lebens schwach? In unserem Gespräch kam sehr klar heraus, dass Bedürftigkeit nicht zwingend etwas mit monitären Mitteln zu tun hat. Jeder Mensch hat an seinen eigenen Bedürfnissen und Bedürftigkeiten zu wachsen – es gibt nicht von ungefähr genug bedürftige Millionäre 😉

So vieles obliegt unserer subjektiven Sichtweise. Wenn wir der finanziellen Bedürftigkeit mehr Integration und Akzeptanz in unserer Gesellschaft geben, ist es ein erster Schritt vermeintliche Schwächen in Form von Scheitern, Niederlagen, Rückschlägen, schlechten Phasen oder einfach nur miesen Tagen von ihrem Tabu zu befreien, und wir können offener mit uns und einander umgehen.

Michael Spitzenberger hat Brot am Haken nach München geholt, und feilt mit ganzem Herzen an einer großen Social Design Vision © Brot am Haken e.V.
Es geht darum Inseln der Menschlichkeit zu
erschaffen – die Menschen anzustupsen aus
ihren Rollen zu treten, um unsere Gesellschaft
neu zu gestalten, so Michael Spitzenberger.

Ich denke auch ein Tiefpunkt ist vielmehr ein Punkt zum Innehalten. Wer bin ich? Welches Leben lebe ich, welches Leben will ich wirklich leben? Um dann der Frage nachzugehen, welche die nächsten Schritte hin zu einem guten Stück Glück im eigenen Leben sind.

Von der Gedankenreise zurück zum Kern von ‘Brot am Haken’. Die Inititiative soll also in Zukunft noch mehr zum gemeinsam Lebensfreude erschaffen und Anstupsen anregen. ‘Brot am Haken’ wird zu ‘Hey’ weiterentwickelt, um die Verbreitung eines modernen gesellschaftlichen Lebensgefühl der Gemeinsamkeit zu unterstützen. Man könnte auch sagen es ist eine Art sanfte Revolution für eine lebenswertere Kultur in unserer Mitte. So soll sich auch das Konzept künftig viel flexibler in die Ladenlandschaft integrieren und für jedes Produkt verwendbar sein. Hey, schließlich hat fast jeder Mensch auch mal das Bedürfnis nach einem Haarschnitt oder etwas ähnlichem. ‘Hey’ wirkt weiter sinnstiftend, und verändert damit unsere Welt.

Ende des Jahres darf ich voraussichtlich, über die neuesten Entwicklungen von ‘Hey’ berichten. Ich weiß schon ein wenig, und bin so gespannt, wie sich dieses tolle Herzensprojekt weiter zu einem Leuchtturmprojekt im Social Design entwickeln wird.

Während mein Blick voll Vorfreude hier im Café Blá über den Tresen streift, wo – wie sollte es anders sein auch ein ‘Brot am Haken’, gefüllt mit einigen Bons, steht. Bevor ich gehe, kommt noch ein Bon von mir dazu. Ein Cappuccino natürlich, der Kaffee hier ist einfach großartig. Ich komme bald wieder, so wie hoffentlich auch jemand der sich über meinen Caffè sospeso freut.

Mehr erfahren:

‘Brot am Haken’

 

Artikel lesenswert?
Bewerten:
Durchschnittsbewertung: 3
Anzahl an Bewertungen: 1
Fotocredits: © Brot am Haken e.V., © Header-Foto Café Blá by Ingrid Hofer | Desinn.today